Auf Schritt und Tritt – Überwachung ohne jeden konkreten Verdacht
von am 17. März 2010 veröffentlicht in politische Justiz

Wie fast jedes Jahr ist auch für den Herbst 2004 ein Transport mit radioaktivem Atommüll aus der Plutoniumfabrik La Hague in Frankreich zum Zwischenlager Gorleben angekündigt. Wieder gibt es zahlreiche AktivistInnen, die dagegen mobilisieren, Mahnwachen und Protestaktionen ankündigen. Die Stimmung ist gut, denn der Antiatom-Widerstand in Göttingen kann auf erfolgreiche Jahre zurückblicken. Stets ist es gelungen, den Protest ungehindert auf die Schienen zu tragen und den strahlenden Transport in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion im Stadtgebiet zum Stehen zu bringen.

Dieser Text stammt aus der Broschüre der Initiative für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Presserechtlich verantwortlich ist Patrick Humke-Focks, MdL.

Doch jetzt ist 2004 – und dem 4. Fachkommissariat der Göttinger Polizei (politisch motivierte Straftaten) eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten, Druck auf den Antiatom-Widerstand auszuüben. Denn die Niedersächsische Landesregierung hat kurz zuvor einen Beschluss gefasst: Auch eine Person, der bisher keine Straftaten vorgeworfen werden konnten, kann präventiv überwacht werden.

Der Antrag auf Observation des Betroffenen ist im FK4 schnell geschrieben. Als Begründung wird lediglich angeführt, der Betroffene hätte sich in der Vergangenheit öffentlich gegen Atomkraft ausgesprochen und wiederholt am sich öffentlich treffenden AntiAtomPlenum teilgenommen. Vorgesetzten und Gerichten reicht das. Der Antrag wird durch gewunken und die Observation mit Hilfe von Telekom und Landeskriminalamt umgesetzt. Bereits zwei Wochen vor Ankunft des Atommülltransports wird das Telefon angezapft und sämtliche Telefongespräche des Betroffenen und seiner Wohngemeinschaft mitgeschnitten. Als sich über das Telefon keine Anhaltspunkte für rechtswidriges Verhalten finden lassen, wird vom Landeskriminalamt eine persönliche Überwachung angefordert. Von nun an ist der Betroffene außerhalb des Hauses nicht mehr allein, Fahnder eines mobilen Einsatzkommandos (MEK) folgen ihm auf Schritt und Tritt.

Minutiös wird aufgeschrieben, wo er sich aufhält, welche Geschäfte er betritt, mit wem er sich wie lange trifft und unterhält. Offizielles Ziel der Observation ist laut Akten die „Verhütung von Straftaten, die eventuell beabsichtigt sind bzw. Vorsorge für die Verfolgung“. Genaueres kann die Glaskugel den Ermittlern zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Doch auch im weiteren Verlauf finden sich keine Anhaltspunkte für Straftaten. So bleibt es in den Berichten bei Allgemeinplätzen wie „konspirative Verhaltensweisen“ und Spekulationen über mögliche Vorhaben.
Am 7. November 2004 fährt der Castor-Transport schließlich – und damit muss die Observation auch endlich einen Erfolg liefern. Kurz nach Mitternacht werden der Betroffene und eine Begleitperson in Bebra in Nordhessen durch einen filmreifen Zugriff des MEK in Gewahrsam genommen – laut Akte, weil sie die Observation nun doch bemerkten. Um noch eine Straftat konstruieren zu können, wird zunächst der nahegelegene Wald nach einem Benzindepot abgesucht. Als auch hier nichts gefunden werden kann, wird gegen den Betroffenen schließlich eine Strafanzeige wegen versuchtem gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr erstattet. Begründung: Die beiden Personen hätten versuchen können, ihr Auto kilometerweit über ein Feld zu rollen und es auf der Schiene abzustellen. Doch selbst der zuständigen Staatsanwaltschaft war diese Theorie viel zu abwegig, so dass das Verfahren sofort eingestellt werden musste.

Als dem Betroffenen die Observation und Telefonüberwachung mitgeteilt werden, reicht er über seinen Anwalt Klage gegen die Maßnahmen ein. Wenige Monate später stellt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einer anderen Sache fest, dass die präventive Telefonüberwachung grundgesetzwidrig ist. Und das Verwaltungsgericht Göttingen zählt der Polizeidirektion so viele Fehler in ihrer Observationsanordnung auf, dass diese am Ende selbst die Rechtswidrigkeit der Überwachung eingesteht.

Doch die Observation und der durch das Ausspionieren erfolgte Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen und seines Umfelds können nicht ungeschehen gemacht werden. Solange die Polizei jede Möglichkeit nutzt, um missliebige Personenkreise auszuforschen, kann diese Form der Repression alle treffen. Und bei präventiven Maßnahmen ist ein Beweis der eigenen Unschuld leider grundsätzlich nicht möglich…

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