Aus studentischem Engagement wird Landfriedensbruch
von am 12. März 2010 veröffentlicht in politische Justiz

29. Januar 2008. Zwei Wochen lang haben Studierende an der Uni einen selbstverwalteten Raum aufgebaut, in dem Begegnungen und Diskussionen jenseits des grauen Uni-Alltags möglich sein sollen – gegen den Willen der Universitätsleitung. Diese hatte sich seit Jahren geweigert, für eine entsprechende Initiative Räume zur Verfügung zu stellen. Als die Studierenden nun das Heft selbst in die Hand nehmen, reagiert die Unileitung mit Gewalt. PolizistInnen mit Vorschlaghammer und Schlagstöcken stürmen nachts den Raum und nehmen die drei Anwesenden in Gewahrsam – die Unileitung hatte Anzeige wegen Hausfriedensbruch gestellt.

Dieser Text stammt aus der Broschüre der Initiative für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz. Presserechtlich verantwortlich ist Patrick Humke-Focks, MdL.

Über 300 Menschen wollen sich jedoch nicht mit diesem gewaltsamen Vorgehen von Polizei und Unileitung abfinden. Noch am selben Abend formiert sich eine Spontandemonstration, um gegen die Räumung zu protestieren. Die Polizei reagiert auf den Protest mit massiver Einschüchterung und Gewalt. Immer wieder blockiert sie die Demonstration. Schläge und Tritte gegen die VersammlungsteilnehmerInnen sollen diese davon abbringen, ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Demonstrierenden lassen sich jedoch von der Polizei nicht einschüchtern. Kreativ lassen sie die Eskalationsversuche der Polizei ins Leere laufen: Die Demonstration wechselt immer wieder die Richtung, teilt sich, findet sich wieder zusammen. Davon ist die Polizei offensichtlich genervt. Je weniger sich die Demonstrierenden auf eine Konfrontation mit ihnen einlassen, desto häufiger schlagen die EinsatzbeamtInnen zu.

Die Ereignisse des Abends haben Folgen. Jedoch nicht für die Polizei, sondern für einen Teilnehmer der Demonstration. Er wird wegen Landfriedensbruch angezeigt. Angeblich soll er einen Polizisten geschlagen haben Als Beweis dient ausschließlich die Aussage des angeblich angegriffenen Beamten. Andere Beweise gibt es nicht. Weder hat der Polizist irgendeine Verletzung davongetragen, noch hat eine der mindestens vier Polizeikameras die angebliche Tat gefilmt. Im Laufe des Gerichtsprozesses wird deutlich, dass die Personenbeschreibung des Polizeizeugen falsch ist. Der Polizist hatte behauptet, der Demonstrant hätte eine Mütze getragen. Zeugen der Verteidigung und Videoaufnahmen konnten jedoch belegen, dass dies zum Zeitpunkt der angeblichen Tat nicht der Fall war.

Und erst nach Ermittlungen der Verteidigung und Vernehmung von Polizeibeamten vor Gericht kommt heraus, dass die Polizei mindestens zwei Videobänder von dem Abend gelöscht hat, ohne dies auch nur zu den Akten zu geben. Pikante Begründung im Nachhinein: Sie hätten kein belastendes Beweismaterial enthalten. Ob sie stattdessen entlastendes Material enthielten, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Den Richter ficht all dies nicht an. Er verurteilt den Angeklagten zu 120 Tagessätzen. Das heißt, der Angeklagte muss 6000 Euro Strafe zahlen und ist somit vorbestraft.

Die Aussage des Polizisten zeigt, wie der Angeklagte ins Fadenkreuz des Beamten gekommen war: Er sei ihm schon zu Beginn der Demonstration aufgefallen, weil er andere Beamte angeschrieen habe. Er hatte also die PolizistInnen genervt, als diese die Demonstration gewaltsam stoppen wollten. Außerdem waren Gesicht und Name des Angeklagten der Polizei bereits bekannt. Denn er war bereits in den Jahren zuvor immer wieder öffentlich im Rahmen von Bildungsprotesten aufgetreten, als Anmelder und Organisator von Demonstrationen und als Redner auf Bildungsstreikveranstaltungen und Aktionen. Seitdem wird er regelmäßig von Zivil-Beamten des Staatsschutzes (Fachkommissariat 4) bei öffentlichen Aktionen namentlich angesprochen. Man will zeigen, dass man ihn kennt. Zuletzt hatte man ihn bei der Räumung, die der Demonstration voranging, angetroffen. Die Leitung der Universität zog derweil die Anzeige wegen Hausfriedensbruch zurück und nahm nun mit der Initiative für einen selbstverwalteten Raum konstruktive Gespräche auf. Für die Polizei schien es an der Zeit, den Aktivisten anderweitig einzuschüchtern.
Die Botschaft ist deutlich: „Nimm besser alles hin! Die Aussage eines einzelnen Polizisten – und sei sie noch so widersprüchlich – reicht aus, um dich zu verurteilen.“

Der Verurteilte hatte gegen das Urteil Berufung eingelegt. Diese hat er nun jedoch auf Grund des offensichtlichen Verurteilungswillens des zuständigen Berufungsrichters zurückgezogen. Diese teilte dem Anwalt des Verurteilten noch vor Eröffnung des Berufungsprozesses schriftlich mit, dass er das Urteil der ersten Instanz für „wohl begründet“ hält. Außerdem kündigte er mit Blick auf den Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft an, dass im Fall einer erneuten Verurteilung „in der Tat mit einer höheren Bestrafung zu rechnen sein dürfte.“ Diesem Druck hat sich der Verurteilte nach Abwägung von Kosten und Nutzen in einem aussichtslosen Verfahren gebeugt, insbesondere da damit wieder die von der Staatsanwaltschaft geforderten vier Monate Haft im Raum standen.
Die Initiative für einen selbstverwalteten Raum an der Uni war erfolgreich. Ihr Ergebnis ist das „Freiraum-Café Autonomicum“ im Erdgeschoss des Blauen Turms.

Anatomie einer Repression gegen politische Aktivisten im Mantel der Justiz

Die Kriminalisierung des Aktivisten beginnt bereits vor der Beschuldigung durch Polizei und Staatsanwaltschaft wegen Landfriedensbruch. Bereits bei der Räumung des selbstverwalteten Raums an der Universität war er mit zwei weiteren Personen von der Polizei kurzzeitig in Gewahrsam genommen worden, weil er in dem Raum angetroffen worden war. Die Universitätsleitung hatte gegen die NutzerInnen des selbstverwalteten Raums Anzeige wegen Hausfriedensbruch erstattet. Die darauf folgenden Ereignisse zeigen lehrbuchartig, wie politisch engagierte Menschen durch die Polizei erfasst und verfolgt werden.

Auf der Wache erzwingen die Polizisten gegen den Widerspruch der Betroffenen eine so genannte Erkennungsdienstliche Behandlung (ED-Behandlung). Das heißt: Von den in Gewahrsam Genommenen werden Fotos gemacht, ihnen werden Fingerabdrücke abgenommen, sie müssen sich ausziehen, damit die Polizei „besondere körperliche Merkmale“ dokumentieren kann. Begründung: Dies sei für die Ermittlung wegen Hausfriedensbruchs gegen die Angeklagten unbedingt notwendig. Eine ED-Behandlung ist ein Grundrechtseingriff, der nur erlaubt ist, wenn dies für Ermittlungen in einer Strafsache unabdingbar ist. Die Beschuldigten sind in dem besetzten Raum von 20 Polizeikräften vorgefunden worden. Warum braucht die Polizei zusätzlich Lichtbilder und Fingerabdrücke, um ihre Anwesenheit in dem besagten Raum nachzuweisen?

Die Universitätsleitung zieht kurz nach dem Polizeieinsatz die Anzeigen wegen Hausfriedensbruch gegen die von der Polizei aufgegriffenen Besetzer zurück. Damit gibt es für weitere Ermittlungen keine Grundlage mehr. Nun spätestens müssten die Daten aus der ED-Behandlung gelöscht werden, da sie nur für diese Ermittlungen erfasst wurden. Die Anwälte der Beschuldigten stellen einen entsprechenden Antrag bei der Polizei. Diese löscht die Daten der beiden anderen zuvor Beschuldigten. Die Polizei weigert sich jedoch, die Daten des Studierenden zu löschen, dem später auch der Prozess wegen Landfriedensbruchs gemacht wird.

Die Begründung zeigt, wie die Grundrechte politisch aktiver Menschen systematisch ausgehebelt werden: Die Polizei teilt dem Anwalt des Betroffenen am 01.April 2008 schriftlich mit, die Daten vorerst bis zum Jahr 2013 zu speichern. Dies sei notwendig, um zukünftige Straftaten des Mandanten zu verhindern oder besser verfolgen zu können, da dieser nach Ansicht der Polizei ein Wiederholungstäter sei.
Wie kommt die Polizei zu dieser Behauptung? Schließlich war der Betroffene zuvor noch nie wegen einer Straftat angeklagt und dementsprechend auch nicht verurteilt. Trotzdem behauptet die Polizei, er sei seit 2005 durch „Straftaten aufgefallen“. Gegen ihn seien „mehrere Verfahren wegen Hausfriedensbruch und Nötigung eingeleitet“. Die Falle Crux besteht in den beiden Begriffen „aufgefallen“ und „eingeleitet“. Denn damit macht die Polizei deutlich, dass sie schon zuvor versucht hatte, den Beschuldigten juristisch zu verfolgen, jedoch bisher immer ohne Erfolg: Die Staatsanwaltschaft konnte aus Mangel an Beweisen nicht einmal Anklage erheben. Obwohl es angeblich „mehrere Verfahren“ gibt, erwähnt die Polizei nur eines aus dem Jahr 2005 explizit: Das Verfahren wurde jedoch noch vor der Anklageerhebung nach §170 Abs. 2 der Strafprozessordnung (kein hinreichender Tatverdacht) eingestellt. Der Betroffene erfährt erst durch das Schreiben im Jahr 2008, dass damals – im Jahr 2005 – gegen ihn ermittelt wurde. Ein Gerichtsprozess in dieser Frage wäre interessant geworden, da der Beschuldigte zu dem Zeitpunkt, als er angeblich einen Hausfriedensbruch in der Innenstadt begangen haben soll, am Nordcampus vor 200 Studierenden einen Vortrag zum Thema Studiengebühren gehalten hatte.
Außerdem – so die Polizei weiter – habe sich die negative „Prognose“ über die „Persönlichkeit“ des Betroffenen dadurch bestätigt, dass dieser noch am selben Abend „einen Polizeibeamten bei einer Demonstration mit Schlägen und Tritten traktiert“ habe. Damit ist der Vorwurf des Landfriedensbruchs auf der Spontandemonstration nach der Räumung angesprochen. Zu dem Zeitpunkt, als dieses Schreiben abgefasst wird, ist in dieser Frage noch nicht einmal Anklage erhoben und erst recht kein Urteil gesprochen. Die Polizei erklärt also die Aussagen ihrer eigenen Kollegen zu Fakten, um einen massiven Eingriff in die Grundrechte zu legitimieren. Die Unschuldsvermutung ist damit für den Betroffenen aufgehoben.

Es reichen Ermittlungen aus der Vergangenheit, die es nicht einmal zur Anklage gebracht haben, und der zu diesem Zeitpunkt nicht gerichtlich geprüfte Vorwurf eines einzelnen Polizisten, um dem Betroffenen „die mehrmalige Besetzung von Räumen“ und eine „sehr geringe Hemmschwelle für Aggressionen“ zu unterstellen. Dies legitimiert die Speicherung von sensiblen persönlichen Daten durch die Polizei – vorerst – bis zum Jahr 2013.
Es zeigt sich: Für die Polizei lohnt sich jede Verfolgungsbemühung. Für die Betroffenen stellt sie – egal wie sie konkret ausgeht – eine Gefahr dar. Denn nach dem Motto „etwas bleibt immer hängen“ können selbst unbewiesene Anschuldigungen dafür benutzt werden, um die Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt zu belasten.

Weil er sich friedlich mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams für einen selbstverwalteten Raum an der Universität eingesetzt hat, wurde der Studierende von der Polizei als kriminell markiert. Eine richterliche Verurteilung ist dafür nicht nötig gewesen. Der Widerspruch des Betroffenen gegen das Vorgehen der Polizei wurde von den zuständigen Gerichten zurückgewiesen.

Dass es der Polizei bei der ED Behandlung nicht um die Erfordernisse strafrechtlicher Ermittlungen geht, sondern vielmehr um eine umfassende Sammlung von Daten von möglichst vielen Personen, zeigt der folgende Artikel aus dem Göttinger Tageblatt vom 19. Februar 2009:

Göttinger Tageblatt, 21.01.2010:
Erkennungsdienstliche Behandlung
Noch mehr Klagen
Fotos und Fingerabdrücke von 3,3 Millionen Bundesbürgern befinden sich in der Verbrecherdatei des Bundeskriminalamtes, 220 000 Niedersachsen wurden erkennungsdienstlich behandelt. Doch die Anordnung dieser Datenerhebung ist immer öfter rechtswidrig. Die Zahl der Klagen gegen erkennungsdienstliche Behandlungen steigt – immer mehr sind erfolgreich.

Schon seit 2008 hatte das Verwaltungsgericht (VG) Göttingen einen Anstieg der Klagen gegen die Anordnung erkennungsdienstlicher Behandlungen (ED) registriert. Die Erfolgsaussichten der Kläger, so VG-Präsident Thomas Smollich, waren damals wie heute besser als in allen anderen Rechtsgebieten. Als Grund wurde angenommen, dass Innenminister Uwe Schünemann (CDU) mit so genannten „Zielvereinbarungen“ mehr ED-Behandlungen von den Polizeidienststellen gefordert hatte. Der bisherige Polizeipräsident Hans Wargel – inzwischen Präsident des Verfassungsschutzes – hatte das umgesetzt. Offenbar mit der Folge, dass nicht alle Bescheide, die regelmäßig einen massiven Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen bedeuten, den rechtlichen Anforderungen genügten – insbesondere bei der Prognose von Wiederholungsgefahr.
Die Zahl der Klagen stieg von einigen wenigen bis 2007 auf 32 im Jahr 2008. Im abgelaufenen Jahr waren es schon 52 Neueingänge, hat Smollich errechnet. Von den 52 Klagen gegen ED-Anordnungen sind bisher nur 37 erledigt. 30 standen zur Entscheidung an. Knapp zwei Drittel waren erfolgreich. In 18 Fällen gab die Polizei vor der Verhandlung klein bei und übernahm die Kosten, in einem Fall verlor sie. Nur zwei der Klagen wurden abgewiesen, neun von den Klägern zurückgenommen.
Dabei hatte die Polizei sogar schon auf die Folgen der vermehrten Klagen landesweit reagieren müssen: Früher wurde neben Fotografieren und Fingerabdruck-Nehmen oft auch „ähnliche Maßnahmen“ angeordnet. Das, so hatte das Oberverwaltungsgericht im Februar 2009 geurteilt, sei viel zu unbestimmt. Seither steht dieser Satz nicht mehr in den Vorladungen. Dennoch steigt die Zahl der Klagen weiter.


Jürgen Gückel

Anatomie eines politischen Prozesses

Das Urteil des Amtsrichters Behrend im Prozess gegen den studentischen Aktivisten beruht ausschließlich auf der Aussage eines einzelnen Polizeibeamten. Es liegen keine weiteren Beweise vor, die diese Aussage stützen. Im Gegenteil: es konnte im Prozess gezeigt werden, dass möglicherweise entlastendes Videomaterial durch die Polizei gelöscht wurde, ohne dass dies dokumentiert wurde. Zugleich konnte die Verteidigung nachweisen, dass der Polizeibeamte den Angeklagten falsch beschrieben hat. Im Folgenden werden die Widersprüche und Verfahrensfehler der Anklage den rechtlichen Bestimmungen und der entsprechenden Würdigung in der Urteilsfindung des Richters gegenüber gestellt und kommentiert. Alle Hervorhebungen stammen vom Verfasser. Namen von ZeugInnen wurden durch ein „XX“ anonymisiert.

Verschwundenes Videomaterial:
In der Ermittlungsakte wird angegeben, dass zwei Videobänder angefertigt wurden. Sie wurden laut Ermittlungsakte angefertigt von zwei Beweissicherungstrupps. Bei Ansicht eines der Videobänder stellt die Verteidigung fest, dass noch mindestens ein weiterer Beweissicherungstrupp die Demonstration eng begleitet und filmt. Die Verteidigung beantragt daraufhin, „sämtliche polizeilichen Videos“ der Verteidigung auszuhändigen. Der ermittlungsleitende Beamte bei der politischen Polizei in Göttingen, Frey, erklärt daraufhin schriftlich, dass „erst jetzt bekannt“ geworden sei, dass es noch einen weiteren Beweissicherungstrupp auf der Demonstration gegeben habe. Deren Aufnahmen seien aber gelöscht worden, „da diese nur Personen, aber keine Straftaten gezeigt hätten“. Diese Begründung widerspricht § 160 der Strafprozessordnung.
Damit hat die Polizei bereits zugegeben, ein Video gelöscht zu haben, ohne dies zu dokumentieren. Als im Gerichtsprozess der Beamte eines Dokumentationstrupps vernommen wird, sagt er aus, dass er an diesem Tag gar nicht mit seinem Kollegen zusammen war. Dieser habe vielmehr in einem weiteren Team gefilmt. Der Beamte kann weder sagen, wo er sich zum angeblichen Tatzeitpunkt (18:43 Uhr) aufgehalten hat, noch was zu diesem Zeitpunkt auf dem gelöschten Videoband zu sehen gewesen ist. Ob das Band entlastendes Material enthält, lässt sich nicht mehr feststellen. Wo das nunmehr vierte Videoband verblieben ist, ließ sich im Laufe des Prozesses nicht mehr aufklären. Damit sind 2 Videobänder gelöscht worden, ohne dass die Polizei dies dokumentiert hat. Was sie enthalten haben, bleibt ungeklärt. Noch am gleichen Prozesstag sagt eine Polizeibeamtin aus, sie habe direkt am angeblichen Tatort zur angeblichen Tatzeit eine Person in Uniform gesehen, die gefilmt oder fotografiert hat. Wer war diese Person? Was hat sie gefilmt oder fotografiert?

§160 Strafprozessordnung:
„(1) Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen.

(2) Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung der Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen ist.“

Würdigung durch den Richter in der Urteilsbegründung:
„Hätten die Zeugen XX und XX den Angriff selbst beobachtet, hätten sie sich an ein solch markantes Geschehen, wie von den übrigen Polizeibeamten in der Kette geschildert, erinnern müssen. Da dies nicht der Fall ist, sind durch die Löschung dieses Bandes nach Überzeugung des Gerichts keine Beweismittel vernichtet worden, die für den Tatnachweis erheblich oder geeignet gewesen wären, den Angeklagten zu entlasten.“

Die Aussage der Polizeibeamtin über eine uniformierte Person, die am angeblichen Tatort gefilmt habe, wird vom Richter in der Urteilsbegründung gar nicht gewürdigt.

Falsche Beschreibung des Angeklagten durch den einzigen Belastungszeugen:
Am 31. Januar 2008 – Zwei Tage nach der Demonstration – gibt der einzige Belastungszeuge seine Aussage zu Protokoll, mit der er den Angeklagten belastet. Dieser habe ihn auf den Oberkörper und das Visier seines Helms geschlagen. Er beschreibt den Verdächtigen folgendermaßen: „Ca. 170 cm groß, trug eine dunkle Schirmmütze unter der gewellte schwarze Haare zu erkennen waren. Des weiteren hatte die Person einen Oberlippen- und Kinnbart und machte insgesamt einen ungepflegten Eindruck. Um den Hals trug diese Person ein dunkles Tuch.“

In einem Vermerk vom selben Tag – 31.Januar 2008 – protokolliert der Zeuge, er habe „die von mir im Ereignistext beschriebene Person bei der Sichtung der Videoaufzeichnungen des Beweissicherungstrupps der 5. BPH wiedererkannt. Es handelt sich dabei um eine männliche Person, ca. 170 cm groß, dunkle wellige Haare. Bekleidet war diese Person mit einer dunklen Schirmmütze und um den Hals trug sie ein dunkles Tuch.“

Bei einer Zeugenvernehmung durch einen Beamten des Staatsschutzes am 07. Februar 2008 – neun Tage nach der Demonstration – gibt der Zeuge zu Protokoll: Diese männliche Person trug eine Mütze mit einem kleinen Schirm, unter der dunkle gewellte Haare herausschauten. Des weiteren hatte diese Person einen Schnauzer sowie einen Kinnbart. Weiterhin trug er ein Halstuch um den Hals.“ Weitere Beschreibungen des Beschuldigten gibt es nicht.

Vor Gericht beschreibt der Zeuge den Beschuldigten am 31. März 2009 – ein Jahr und drei Monate nach der Demonstration – wie folgt: „Eine Person ist mir aufgefallen, weil ich das Gesicht gesehen habe. Alle anderen waren vermummt. Diese Person stand vor mir und hat mit Fäusten gegen meinen Oberkörper geschlagen, auch gegen das Visier. Diese Person stand mir am Anfang der Demo gegenüber und hat einen Braunschweiger Kollegen angegriffen. Deshalb ist er mir aufgefallen.“
Der Zeuge gibt im Folgenden keine weitere Beschreibung von Gesicht oder sonstigem Aussehen des Angeklagten, auf Nachfrage der Verteidigung aber noch folgende Informationen: Ich kann jetzt nicht mehr genau sagen, was der Angeklagte anhatte. Ich kann mich an eine Mütze und an einen Schal erinnern, kann darüber aber keine Einzelheiten sagen.“ Und weiter: Ich kann noch sagen, dass die Mütze einen Schirm hatte. Ich bin der Meinung, dass es eine dunkle Farbe war. Der Schirm wurde nach vorne getragen. Es war keine Basecap sondern eher eine Stoffmütze. An Auffälligkeiten an der Mütze kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht, ob die Mütze tief im Gesicht war oder weiter oben.“

Sowohl durch ZeugInnen der Verteidigung als auch durch Videos der Polizei kann die Verteidigung zeigen, dass der Angeklagte zwar über weite Strecken der Demonstration eine Schirmmütze getragen hat. Zum Zeitpunkt der angeblichen Tat trug er die Mütze jedoch nicht mehr. Dies wird weder von der Staatsanwaltschaft noch vom Richter bestritten. Die Mütze war zum Zeitpunkt der angeblichen Tat im Besitz einer anderen Demonstrantin. Diese bestätigt dies vor Gericht als Zeugin. Zwei weitere Zeugen bestätigen, die Zeugin mit der Mütze gesehen zu haben und mit ihr darüber gesprochen zu haben, wem sie gehört. Auch die Videobänder der Polizei zeigen den Angeklagten kurz vor der angeblichen Tat ohne Mütze. Die „Täter“-Beschreibung des einzigen Belastungszeugen besteht aus vier Informationen: 1) Mütze, 2) darunter gewellte schwarze/dunkle Haare, 3) Oberlippen- und Kinnbart, 4) Schal/Tuch. In allen seinen Aussagen (zwei Tage, neun Tage und über ein Jahr nach der Demonstration) beschreibt der einzige Belastungszeuge den Angeklagten immer wieder mit Mütze und darunter sichtbarem Haar und macht auf Nachfragen vor Gericht sogar noch genauere Angaben dazu.

Der Richter erklärt die Falschbeschreibung mit Mütze zum „Randgeschehen“, da der Zeuge „als wesentliches Identifikationsmerkmal das Gesicht des Angeklagten beschrieben hat und nicht dessen Kleidung oder gar Kopfbedeckung“.

Wo hat der Zeuge das Gesicht des Angeklagten beschrieben? Alle zu Protokoll gegebenen „Täter“- Beschreibungen sind in der linken Spalte dokumentiert. Die einzige Beschreibung, die nichts mit der Kleidung zu tun hat, lautet: „Schnauzer sowie Kinnbart“ / “dunkle gewellte Haare“. Bei der Beschreibung direkt nach der Demonstration steht die Mütze direkt am Beginn der Aussage. Ebenso bei der Zeugenvernehmung neun Tage später. Bei der Gerichtsverhandlung bestätigt der Zeuge diese Darstellung zum dritten Mal. Das ohnehin problematische einzige Belastungsmittel – die Aussage einer Person ohne weitere Belege – stellt sich damit als inkonsistent heraus. Trotzdem fällt der Richter auf dieser Grundlage ein drakonisches Urteil. Dies zeigt: Wer von einem Polizeibeamten belastet wird, für den gilt die Unschuldsvermutung nicht mehr. Eine Erschütterung der Aussagen des Polizeibeamten reicht nicht aus. Die Staatsanwaltschaft muss keine weiteren Beweise beschaffen, wenn sie nur die Aussage eines oder mehrerer Polizisten zur Verfügung hat. Solange diese sich nicht zu offensichtlich widersprechen, hat der Angeklagte keine Chance.

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