Oliver Nachtwey: „Der Bildungsstreik braucht Utopien“
von am 2. Dezember 2009 veröffentlicht in Bildungsstreik, Politik

Seine Studierenden duzt er, sein Seminar verlegt er auch schon mal mitten in eine Protestaktion, um diese zu unterstützen. Oliver Nachtwey ist Teil von sozialen Bewegungen und analysiert sie zugleich. In diesem Semester gibt er am Institut für Politikwissenschaften der Uni Göttingen ein Seminar ein Seminar zu Sozialen Bewegungen in Deutschland. Wir sprachen mit dem Soziologen über den aktuellen Bildungsstreik, seine Eigenheiten und Potentiale.

Herr Nachtwey, kann man beim aktuellen Bildungsstreik von einer sozialen Bewegung sprechen?
Ja, das kann man in der Tat. Im Bildungsstreik sind nicht nur tausende von Studierenden aktiv, sondern der Protest wird von einem Netzwerk von Gruppen und Organisationen gestützt. Es existieren gemeinsame Ziele für den Wandel der Gesellschaft, die mit – bei allen Unterschieden in den Motiven der Studierenden – einer kollektiven Identität verbunden sind. Zudem: Der aktuelle Bildungstreik reiht sich ein in eine immer dichter aufeinder folgende Zahl von Bildungsprotesten in den vergangen Jahren.

Aus der Politik kommen nun immer mehr Stimmen, die Verständnis für die Protestierenden äußern. War der Protest erfolgreich?
Er war insofern erfolgreich, dass die Politik auf die Studierenden zugehen muss. Und es gibt ja auch die ersten Zugeständnisse, aber das Kalkül der Politik ist sicherlich auch, mit kleinen Zugeständnissen der Protestbewegung ihre Spitze zu nehmen. Bislang hat man aber nur zu einem sehr geringfügigen Teil die Ziele erreicht.

Wäre es denn für eine soziale Bewegung besser, einen Gegner zu haben, der von den Forderungen nichts hält?
Nicht zwangsläufig. Ein Gegner, der sich konfrontativ und abschätzig verhält kann einen mobilisierenden Effekt haben. Aber wenn man – wie derzeit – Gegner hat, die sich offen zeigen, verleiht dies dem Protest eine stärke Legitimität. Hier kann man ansetzen und nachziehen.

Was ist bei diesem „Bildungsstreik“ anders im Verhältnis zu den vorangegangenen Bildungsprotesten – und was ist vielleicht gleich geblieben?
Durch die Verschulung der Universitäten und die Studiengebühren sind die Bedingugen für Proteste, Streiks und Besetzungen prekärer geworden. Kaum ein Studierender kann es sich noch leisten, mal ein Semester ein paar Vorlesungen und Seminar sausen zu lassen und in der Bewegungen sich andere Formen von Wissen anzueignen. Heute muss man studieren und oftmals arbeiten und gleichzeitig protestieren. Das führt dazu, dass der Bildungsstreik auf der einen Seite in vielen Universitäten stattfindet, dass er aber gleichzeitig überall auf wackeligen Füßen steht.

Bald sind Weihnachtsferien, schon bald darauf Semesterferien. In der Vergangenheit sind zu diesen Zeiten die Proteste immer wieder abgeebbt. Könnte das dieses Mal anders sein?
Nach den Weihnachtsferien könnte es wirklich eng werden, da viele erschöpft sind, Klausuren und Hausarbeiten schreiben müsssen. Aber die Proteste in Hessen 2006 haben gezeigt, dass Bildungsproteste auch im großen Maßstab sich über mehrere Semester hinstrecken können. dieses Jahr gibt es die größte Zahl von StudienanfänferInnen in der Geschichte der Bundesrepublik, die Universitäten sind dafür nicht gerüstet und die Studienbedingungen verschlechtern sich weiterhin. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren der Protest fortgesetzt wird.

Was wären denn Ihrer Meinung nach realistische Ziele, die im Rahmen des Bildungsstreiks erreicht werden könnten?
Die Abschaffung der Studiengebühren und die Reform des Bachelor-Systems. Das ist kann durchaus erreicht werden, wenn man bedenkt, dass selbst so jemand wie Roland Koch nah der Abschaffung in Hessen mittlerweile davor zurückschreckt, wieder Studiengebühren einzuführen. Viele neue und selbst CDU-geführte Landesregierungen wie in Hessen und im Saarland sprechen sich mittlerweile gegen Studiengebühren aus.

Wieviel Realismus – oder auch Pragmatismus – verträgt eine soziale Bewegung im Allgemeinen, wieviel der jetzige Bildungsstreik im Besonderen – und wieviel Utopie ist nötig?
Ich denke, dass man beides braucht. Man braucht realistische und pragmatische Forderungen und Aktionen, die möglichst viele Studierende (und auch Schüler) ansprechen. Size matters. Und man muss auf konkrete Ziele zuspitzten. Aber ohne Idee einer besseren Bildung, ja einer besseren Gesellschaft wird man sich immer nur am Status quo abarbeiten – und letztlich keine wirklich Alternativen zur Vermarktlichung der Bildung erstellen können.

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2 Kommentare auf "Oliver Nachtwey: „Der Bildungsstreik braucht Utopien“"

  1. Arend sagt:

    Meine kommentar ist leider etwas länger geworden.
    Sorry, die Leserin muss jetzt leider ein wenig hin- und herscrollen.

    Zur ersten Antwort:
    Es existieren kaum gemeinsame Ziele der Studierenden für den Wandel der Gesellschaft, sieht man einmal von den ohnehin durch die Norm gesetzten ab. Von einer kollektiven Identität kann nur gesprochen werden, wenn man den Identitätsbegriff so niedrig hängt, dass er bedeutungslos geworden ist. Die Zahl von Bildungsprotesten ist insofern bedeutungslos, als es jedes Mal andere Studierende sind, die aktiv werden, die Mittelschichtenkinder, die sich hier betätigen, sind eher durch Fachkulturen, elitistisches Gehabe und Konkurrenzverhalten voneinander getrennt.
    Bewegung zu behaupten wo keine ist, lässt eher auf die Absicht des akademischen Mittelbauers schließen, in den Auseinandersetzungen spontan entstehendes soziales Kapital auf die eigenen Mühlen zu lenken, d.h. die ein wenig kritischen Studies für seine Lehrveranstaltungen und Arbeitsvorhaben zu begeistern.

    Zur zweiten Antwort:
    Es ist absolut lächerlich zu behaupten, dass die Politik auf die Studierenden zugehen muss. Die Wissenschaftspolitik war auch im Sinne des Kapitals in den letzten zwanzig Jahren dermaßen desaströs, dass es jetzt endlich mal zu einer Änderung kommen muss! Das „deutsche Modell“ überlebt nur mit Forschung und Entwicklung und nicht mit buy outs, man könnte den jetzigen Diskussionen eher einen nationalistischen Charakter unterstellen.
    Als Soziologe sollte er sich an dieser Stelle eigentlich mal fragen, warum „Politik“ in dieser Gesellschaft prinzipiell nicht in der Lage ist, hier anders zu handeln …. in Göttingen scheint man solche Fragestellungen an der Uni nicht zu lernen.

    Zur fünften Antwort zur Frage der Kontinuität dieser Studentenbewegung:
    Das ist eine ökonomistisch platte und völlig überholte Annahme für die Entstehung von Widerstandspotential, von Wolf Wagner bereits 1976 in „Verelendungstheorie, die hilflose Kapitalismuskritik“ widerlegt. Die hessischen „demokratischen Traditionen“ wurden durch die amerikanische Besatzungsmacht nach dem Krieg anders geprägt als in Niedersachsen, nicht ganz so obrigkeitsstaatlich und mit mehr Stärkung des Bürgerbewusstseins, weshalb die Proteste in dieser Schicht auch mehr Widerhall finden.

    Zu den „realistischen Zielen“:
    Ok, das sind doch absolut minimalistische Ziele! Die muss (!!!) der Staat sogar erfüllen, siehe oben. Soziologen sollten sich doch eher fragen, wieso das deutsche wissenschaftliche Bildungssystem eigentlich so starr ist und wer dafür die Verantwortung trägt!

    Zum Verhältnis von Pragmatismus und Utopie:
    Aha. Politische Bewegung ist also ein widersprüchlicher Prozess, in dem in viele Richtungen gelernt wird. Das Attacmodell für eine bessere Zukunft, welches stärkere subsistenzwirtschaftliche Orientierungen vorsieht, dürfte in seinen eher traditionalen Formen der Vergemeinschaftung in Göttingen auf den Widerstand aller vermeintlichen AufklärerInnen stossen …
    Könnte es sein, dass Oliver als Attacmensch dem vorbaut, indem er sich selbst als Aufklärer feiern lässt?

  2. Arend sagt:

    Meine kommentar ist leider etwas länger geworden.
    Sorry, die Leserin muss jetzt leider ein wenig hin- und herscrollen.

    Zur ersten Antwort:
    Es existieren kaum gemeinsame Ziele der Studierenden für den Wandel der Gesellschaft, sieht man einmal von den ohnehin durch die Norm gesetzten ab. Von einer kollektiven Identität kann nur gesprochen werden, wenn man den Identitätsbegriff so niedrig hängt, dass er bedeutungslos geworden ist. Die Zahl von Bildungsprotesten ist insofern bedeutungslos, als es jedes Mal andere Studierende sind, die aktiv werden, die Mittelschichtenkinder, die sich hier betätigen, sind eher durch Fachkulturen, elitistisches Gehabe und Konkurrenzverhalten voneinander getrennt.
    Bewegung zu behaupten wo keine ist, lässt eher auf die Absicht des akademischen Mittelbauers schließen, in den Auseinandersetzungen spontan entstehendes soziales Kapital auf die eigenen Mühlen zu lenken, d.h. die ein wenig kritischen Studies für seine Lehrveranstaltungen und Arbeitsvorhaben zu begeistern.

    Zur zweiten Antwort:
    Es ist absolut lächerlich zu behaupten, dass die Politik auf die Studierenden zugehen muss. Die Wissenschaftspolitik war auch im Sinne des Kapitals in den letzten zwanzig Jahren dermaßen desaströs, dass es jetzt endlich mal zu einer Änderung kommen muss! Das „deutsche Modell“ überlebt nur mit Forschung und Entwicklung und nicht mit buy outs, man könnte den jetzigen Diskussionen eher einen nationalistischen Charakter unterstellen.
    Als Soziologe sollte er sich an dieser Stelle eigentlich mal fragen, warum „Politik“ in dieser Gesellschaft prinzipiell nicht in der Lage ist, hier anders zu handeln …. in Göttingen scheint man solche Fragestellungen an der Uni nicht zu lernen.

    Zur fünften Antwort zur Frage der Kontinuität dieser Studentenbewegung:
    Das ist eine ökonomistisch platte und völlig überholte Annahme für die Entstehung von Widerstandspotential, von Wolf Wagner bereits 1976 in „Verelendungstheorie, die hilflose Kapitalismuskritik“ widerlegt. Die hessischen „demokratischen Traditionen“ wurden durch die amerikanische Besatzungsmacht nach dem Krieg anders geprägt als in Niedersachsen, nicht ganz so obrigkeitsstaatlich und mit mehr Stärkung des Bürgerbewusstseins, weshalb die Proteste in dieser Schicht auch mehr Widerhall finden.

    Zu den „realistischen Zielen“:
    Ok, das sind doch absolut minimalistische Ziele! Die muss (!!!) der Staat sogar erfüllen, siehe oben. Soziologen sollten sich doch eher fragen, wieso das deutsche wissenschaftliche Bildungssystem eigentlich so starr ist und wer dafür die Verantwortung trägt.

    Zum Verhältnis von Pragmatismus und Utopie:
    Aha. Politische Bewegung ist also ein widersprüchlicher Prozess, in dem in viele Richtungen gelernt wird. Das Attacmodell für eine bessere Zukunft, welches stärkere subsistenzwirtschaftliche Orientierungen vorsieht, dürfte in seinen eher traditionalen Formen der Vergemeinschaftung in Göttingen auf den Widerstand aller vermeintlichen Aufklärer stossen …
    Könnte es sein, dass Oliver als Attacmensch dem vorbaut, indem er sich selbst als Aufklärer feiern lässt?

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