Redical [M]: Unsere Wahl heißt Widerstand
von am 23. September 2009 veröffentlicht in goeNOT?vote, Politik

„Die da oben machen eh, was sie wollen.“ (Deutsche Volksweisheit)
Und Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Doch erfüllt sich die jeweilige Regierung eben nicht individuelle Wunschvorstellungen von Gesellschaftsorganisation, sondern versucht den Widerspruch zwischen Kapitalakkumulation und den Bedürfnissen der StaatsbürgerInnen, also gesellschaftliche Risiken und Konfliktpotentiale, bis an seine Grenzen auszugleichen. Wo diese Grenzen gesetzt und gesehen werden, das wird beispielsweise zuerst beim Profit der Automobilindustrie oder bei den Bezügen einer Hartz-IV-EmpfängerIn angesetzt, das ist der minimale Spielraum der viel beschworenen „Richtungsentscheidung“, die es bei der Stimmabgabe in spät-bürgerlichen Demokratien maximal zu treffen gibt. Spätbürgerliche Demokratien zeichnen sich gerade im Zusammenhang mit Wahlen dadurch aus, dass der Staat in der allgemeinen Wahrnehmung weder als zentrale Institution zur Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung bürgerlicher Freiheiten gegenüber autoritären Gesellschaftsmodellen dient, noch als Kompromisslösung zwischen den Interessen der ArbeitskraftverkäuferInnen und denen des Kapitals zur Verhinderung revolutionärer Ausbrüche notwendig ist. Als vorrangiges Prinzip des spät-bürgerlichen Staates erscheint einzig das effiziente Wirtschaften im Sinne des nationalen Standortes und seiner Insassen. Die Funktion des Staates im Kapitalismus als „ideeller Gesamtkapitalist“, also die verschiedenen Interessensgegensätze der Privateigentümer und/oder ArbeitskraftverkäuferInnen auszugleichen, ökonomischen Fortschritt oder zumindest Stabilität zu gewährleisten und dem Ganzen politische Legitimität qua Verfassung zu verleihen bzw. die politische Vermittlung zu gewährleisten, bleibt durch Wahlen unangetastet und ist elementarer Ausdruck davon.

Und Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Aber die da unten dürfen ja auch mitmachen.
Denn die Verfassung gibt doch den StaatsbürgerInnen die Möglichkeit auf freie Meinungsäußerung, auf politische Versammlungen und Organisierung und eben auch das Recht zu wählen. Die bürgerliche Demokratie bietet formal also das Recht auf politische Mitbestimmung und schöpft daraus ihre Legitimation. Im Falle der parlamentarischen Ebenen also das Recht, Gesetze zu erlassen, Verträge mit anderen Staaten zu schließen, Exekutive und Judikative zu besetzen und zu formen usw. usf. Die bürgerlichen Demokratie moderiert den elementaren Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und alle sonstigen widersprüchliche Interessen. Die Bevölkerung wird formal in die Entscheidungsprozesse einbezogen und damit integriert. Wahlen und Wahlkampf haben dabei die Funktion von Legitimation und Integration. Innerhalb des gesetzlichen Rahmens führt kein Weg aus dieser Teilnahme heraus.

Und Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Doch die da unten wollen es ja auch.
Denn die politische Vermittlung der kapitalistischen „Notwendigkeiten“, der Bedürfnisse des „freien Marktes“, scheint hier bisher doch ausgesprochen gut zu funktionieren. So werden Produktionsweise und Privateigentum von einer bedrohlichen Mehrheit der StaatsbürgerInnen zu keiner Zeit in Frage gestellt. Proteste gegen Entscheidungen der Regierung oder einzelner Konzerne stellen höchstens Forderungen nach einer etwas gerechteren Organisation der Produktion und der Gesellschaft auf. Im Regelfall scheint sich der Protest lediglich als anspruchsberechtigt auf gleiche „Verwertungschancen“ zu definieren oder auch nur als mahnender Zeigefinger, dass der Staat allen seiner BürgerInnen ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten habe. Die durchweg staatstragende Argumentationsweise der Proteste in dieser Gesellschaft hat in ihrer ganzen Vorsicht, z.B. in Tarifauseinandersetzungen, selten auch nur den Begriff Reform verdient. Für den Eventualfall, dass dieser Rahmen verlassen werden könnte, ist logischerweise bereits in den Artikeln 9 und 18 des Grundgesetzes vorgesorgt. Wer nämlich dabei Strafrecht oder die “verfassungsmäßige Ordnung“ verletzt, verwirkt sämtliche Grundrechte der politischen Meinungsäußerung und Artikulation. Etwas anderes als dieser Staat darf nicht möglich sein. Kein Wunder also, dass es sich in der Parteienlandschaft nicht anders widerspiegelt. Versuchen die Parteien doch, um sich wählbar zu machen und damit politische Macht zu erhalten, gesellschaftliche Interessen so zu bündeln, dass diese als repräsentativ und allgemeingültig erscheinen. Die bürgerlichen Medien dienen bei der politischen und sonstigen gesellschaftlichen Willensbildung quasi als Vermittlungsfilter in beide Richtungen, nicht (mehr) als zusätzliches Kontrollorgan oder gar vierte Gewalt im Staate.

So ist es nur folgerichtig, dass sich in Zeiten, in denen alternative Gesellschaftsmodelle völlig aus den Köpfen verschwunden zu sein scheinen, die wählbaren Parteien nur noch in Nuancen unterscheiden. Das Fehlen von Widerstand und Versuchen gesellschaftlicher Einflussnahme auf die Politik führen zur Legitimation des Ist-Zustandes und damit zur Angleichung der politischen Konzepte der Parteien. Genau dies befördert die Annahme der eigenen politischen Machtlosigkeit und die willenlose Hinnahme der Gegebenheiten, was in regelmäßigen Abständen durch Wahlen manifestiert wird. Völlig egal ob durch Wählen oder Nichtwählen.Und angesichts der gegebenen Umstände sagt Radio Eriwan: Wähl doch wen Du willst!

Denn eine gesellschaftliche relevante Veränderung führst Du mit keiner Wahlentscheidung herbei. Individuell kannst Du ein gutes Gewissen haben, wenn Du keiner Partei Deine persönliche Legitimation gegeben hast und dich in die 20 bis 30 Prozent NichtwählerInnen einreihen und als entpolitisiert und desillusioniert gelten willst. Aber immerhin hast Du nicht mitgemacht. Du kannst das große Kreuz machen und sagen, macht Euren Scheiß alleine. Dann giltst Du vermutlich als eineR von denen, die zu blöd waren zu kapieren, dass Du auf jeder Seite des Stimmzettels nur ein Kreuz hättest machen dürfen. Aber den StimmzettelzählerInnen und dem Bundeswahlausschuss hast Du immerhin Deine Meinung kundgetan, dass Du nicht mitmachen willst. Du kannst Dich auch für das kleinste oder nicht ganz so große Übel entscheiden und hoffen, dass Deine Wahl zu einer minimalen Verbesserung individueller Lebensumstände einzelner Personengruppen führt. Oder Deine Partei vielleicht ein paar Fragen aufwirft oder ein paar Parolen formuliert, die den Gedanken an ein etwas menschenwürdigeres Leben durch kleine Reformen aufrecht erhält. Aber dann hast Du mitgemacht.

Aber Radio Eriwan fragt: Und warum machst Du nicht, was Du willst?
Die Antwort auf die Frage des Ob-, Wie- oder Was-Wählens kann aus linksradikaler Perspektive nur mit der Wahl des antikapitalistischen Widerstandes beantwortet werden. Sich selbst zu organisieren, zu versuchen Widersprüche im System aufzuzeigen, Überzeugungsarbeit zu leisten, dass die kapitalistische Produktionsweise falsch und menschenfeindlich ist und letztlich „Werbung“ für den Kommunismus zu betreiben, ist die einzige Möglichkeit ernsthafte Kritik am falschen Ganzen zu üben.

Wahlen, die ein hohes Maß an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit haben, könnten dabei auf verschiedenen Ebenen als Vermittlungsmedium genutzt werden. Ob nun durch das Nutzen der Wahlplakatwände für die eigene Propaganda, Proteste auf Wahlveranstaltungen, inhaltliche Kritik an der bürgerlichen Demokratie an sich und den Wahlen als ein wesentliches Legitimationselement oder z.B. auch durch Aufrufe zur und aktive Wahlsabotage.

Radio Eriwan sagt: Du entscheidest …

Text: Redical [M].

In unserer Diskussionsreihe GoeNOT?vote debattieren Göttinger Politgruppen über den Sinn und Unsinn von (Bundestags-)wahlen und der Teilnahme daran. Morgen folgt ein Debattenbeitrag der Linksjugend [’solid] Northeim-Göttingen. Du willst auch einen Beitrag verfassen, der den Rahmen eines üblichen Blogkommentars überschreitet? Dann melde dich bei uns.

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4 Kommentare auf "Redical [M]: Unsere Wahl heißt Widerstand"

  1. Stromsau sagt:

    Stimmt das denn? Historisch sind die Sozialsysteme nicht entstanden aus einem Wunsch, Bedürfnisse des Bürgers bestmöglich gegenüber dem Markt durchzudrücken.

    Vielmehr haben die Regierungen in den verschiedenen Ländern der Welt dann Kranken- oder Rentenversicherungen, Arbeitsschutzgesetze usw eingeführt, wenn der Industrie die Arbeiter oder dem Staat die tauglichen Soldaten zu verknappen drohten.

    Deshalb leisten sich Staaten, die besonders viele arbeitsfähige Arbeitslose „übrig haben“ auch keine umfangreichen Sozialsysteme.

  2. e.r. sagt:

    sehe das ähnlich wie stromsau. der „ideelle Gesamtkapitalist“ muss eben dafür sorgen, dass die kapitalakkumulation langfristig sichergestellt ist, selbst wenn er damit manchmal gegen die kurzfristigen kapitalinteressen verstößt (aktuelle beispiele: finanzmarktregeln, klimagipfel – mal unabhängig davon, was dabei jetzt konkret rauskommt).

  3. e.r. sagt:

    „Individuell kannst Du ein gutes Gewissen haben, wenn Du keiner Partei Deine persönliche Legitimation gegeben hast und dich in die 20 bis 30 Prozent NichtwählerInnen einreihen und als entpolitisiert und desillusioniert gelten willst.“

    es gibt btw studien, die behaupten, dass nichtwähler politisch sehr engagiert und informiert sind – und ich gehe solange nicht wählen, solange ich ein komplettes meinungspaket wählen muss….

    und für parolenschmieren (obwohl ich das geil finde) bin ich ehrlich gesagt fast zu alt…

  4. Jupp sagt:

    Hm, aber CDU/FDP-Regierung mit NPD an Bord des Bundestags sollte jeder/m Grund genug sein, wählen zu gehen. Auch wenn es kein Richtiges im Falschen gibt, geringere und größere Übel jedoch allemal.

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