Neuer Rundbrief der Gedenkstätte Moringen erschienen.
von am 1. Dezember 2008 veröffentlicht in Politik, Texte

Vor kurzem ist die neue und 25. Ausgabe der „dokumente“, des jährlichen Rundbriefes der KZ-Gedenkstätte Moringen erschienen, der die Arbeit der Gedenkstätte dokumentieren und transparent machen soll. Neben vielen kürzeren Mitteilungen, beispielsweise über die Medienpräsenz der Gedenkstätte oder durchgeführte Zeitzeugeninterviews, finden sich dort unter anderem längere Berichte über eine von der Gedenkstätte initierten Comicwerkstatt und ein sehr ausführlicher Tagungsbericht der Tagung „Wegsperren. Exkulsionsmechanismen als gesellschaftliche Konfliktlösung.“ Die Tagung, bei der historische und aktuelle Rahmenbedingungen und Motive der Praxis des „Wegsperrens“ aufgezeigt und diskutiert wurden, fand im April 2008 statt und war von der Gedenkstätte in Zusammenarbeit mit dem LKH Moringen konzipiert worden. Die „dokumente“ können im Roten Buchladen käuflich erworben werden. Als kleinen Vorgeschmack gibt es hier eine der beiden dort erschienenen Rezensionen zu lesen: Die Rezension des Romans „Mara Kogoj“ von Kevin Vennemann.

Mara Kogoj oder: Die Geschichte wird Geschichte von dem, was die Menschen Wahrheiten nannten; und von ihren Kämpfen um diese Wahrheiten. 1

Der heute 31jährige Autor Kevin Vennemann studierte Literaturwissenschaft, Geschichte und Judaistik und beschäftigt sich in seinen Romanen mit historischen, literarisch nur schwer zu fassenden Themen: Sein erster Roman Nahe Jedenew, erschienen im Jahr 2005, hat ein antijüdisches Pogrom zum Thema und schildert beklemmend realistisch den Einbruch der Gewalt in die Welt von Kindern. Er wurde als „der beste literarische Text“ gefeiert, „der in den letzten Jahren von einem unter Dreißigjährigen erschienen ist“ (Süddeutsche Zeitung). Vennemann erhielt diverse Preise, unter anderem den Klagenfurter Literaturpreis. Im Jahr 2006 war er Teilnehmer des Bachmannpreis-Wettlesens in Klagenfurt.

Die Kärntner Slowenen. Der Roman als die Geschichte der Recherche seines Stoffes.

Die Handlung seines zweiten Romans Mara Kogoj ist in ein paar Sätzen erzählt: Das Buch spielt im Süden Österreichs, im Bundesland Kärnten. Dort gibt es eine slowenische Minderheit, die Kärntner Slowenen, die seit dem Aufkommen der Nationalbewegung in Österreich Mitte des 19. Jahrhunderts einem starken Assimilierungsdruck und Diffamierungen ausgesetzt waren, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 auch massiver Verfolgung. Mara Kogoj und ihr Kollege Tone Lebonja, beide Kärntner Slowenen, führen im Rahmen eines Forschungsprojektes Interviews mit ausgewählten Einheimischen über ihr Verhältnis zu Heimat und Geschichte. Einer der Befragten ist der sechzigjährige Ludwig Pflügler, ein wegen Volksverhetzung und ähnlicher Delikte vorbestrafter Journalist, Sohn eines SS-Mannes, deutschnational und heimattreu. Dementsprechend sind seine Interpretationen der Kärntner Geschichte, seine Sicht auf den Widerstand der slowenischen Partisaninnen und Partisanen im Zweiten Weltkrieg und auf die slowenische Minderheit. Die ganze trübe Geschichte Kärntens im 20. Jahrhundert kommt in den Interviews mit Pflügler zur Sprache. Er ist der am ausgiebigsten interviewte Gewährsmann, der alle anderen beiseite drängt und eine zunehmend wichtigere Rolle spielt.

Nur drei Protagonisten präsentiert Vennemann in seinem Roman: Kogoj, Lebonja und Pflügler; und das Forschungsprojekt ist nur ein loser, bewusst im Ungenauen belassener Rahmen, um ihnen ein Gespräch zu ermöglichen. Die Zahl der Personen ist also reduziert, der Aufbau denkbar einfach – doch zwischen diesen wenigen Eckdaten entfaltet Vennemann ein umso komplexeres Gespinst aus Sprache und Stille, aus Erinnern, Vergessen und Verdrängen, aus dem schwierigen Ringen um die historische Wahrheit und Kämpfen um die Deutung von Geschichte. Das Buch Vennemanns lebt somit weniger von seiner – kaum vorhandenen – Handlung, als vielmehr von der Art und Weise, wie dieser sich des Themas annimmt. Und es lebt wesentlich auch von der Sprache: Das Sprechen und Erzählen stehen zweifellos im Mittelpunkt des Buches. Es wird fast ununterbrochen geredet, und dies stets aus der personalen, nicht aus der auktorialen Perspektive. Den Bewusstseinsstrom der Protagonisten sowie den sprunghaften, oft emotionalen Duktus der mündlichen Rede bildet Vennemann in seiner Sprache des Romans ganz bewusst nach. Durch eine ungewöhnliche, sehr gewöhnungsbedürftige Interpunktion unterstützt und verstärkt Vennemann diese Effekte: Der Modus des Sprechens und Wechsel der Perspektive sind an der Interpunktion ablesbar, selbst Wechsel der Tonlage lassen sich erahnen. Der zunächst etwas sperrige Text verlangt im Grunde danach, laut gelesen zu werden, kann sich erst so in seiner ganzen Brillanz entfalten.

Stille ist nur eine Illusion. Doch das Sprechen will geübt sein.

Die Interviews mit Pflügler nehmen einige Monate in Anspruch, Monate, in denen Pflügler mal bereitwillig, geradezu eifrig, mal mürrisch und stockend seinen Interviewer Lebonja als ebenso stummes wie bereitwilliges und wissenschaftlich neutrales Diktiergerät für seine Zwecke ge- und missbraucht. Lebonja, der sich als unbeteiligter Wissenschaftler sieht und nach jahrzehntelangem Aufenthalt im Ausland für das Forschungsprojekt nach Kärnten zurückgekehrt ist, ist fest entschlossen, emotional unbeteiligt zu bleiben und sich nicht wieder in die alte Geschichten hineinziehen zu lassen, die ihn damals bewogen haben, das Land zu verlassen. Außerdem hält er das stumme Zuhören für die einzige Möglichkeit, den launischen Pflügler zum Reden zu bringen und ihn eben nicht mit kritischen Nachfragen oder gar gegenteiligen Positionen zu verärgern. Kogoj missfällt die passive Rolle Lebonjas, denn sie ist sich gewiss: „… es gibt so etwas wie Stille nicht, das kann es gar nicht, keine Stille, und etwas geschieht immer, das einen Klang erzeugt.“ 2 Zunächst versucht Kogoj, sich dem sich anbahnenden Konflikt zu entziehen, indem sie sich mehrmals für längere Zeit aus dem Projekt zurückzieht, gruß- und kommentarlos entschwindet, verreist, um ihre professionelle Distanz zurückzuerlangen. Doch nach dem dritten Fluchtversuch, von der Realität um dessen Unmöglichkeit belehrt, kehrt sie, verzagt und ruhelos, aber auch entschlossener zurück: „Mir läßt das alles. Und das wundert mich ja selber. Keine Ruhe, Kogoj: Kein bißchen Ruhe, treibt mich weiter und weiter, wer weiß schon, wohin, wie ich fürchte, zu weit. (…) Über Jahre war ich fest davon überzeugt, ich könnte in aller Förmlichkeit meine Ruhe bewahren. Und mich im Griff behalten, selbst in mehr oder weniger direkter Konfrontation, dann einfach zurücktreten ein paar Schritte, mich umdrehen und niemals erinnern, und allen nötigen Abstand wahren, wenn es darauf ankommt, aber ankommen wird es darauf jederzeit.“ 3

Die zahlreichen, teils freundschaftlichen, teils heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kogoj und Lebonja sind für beide auch der Versuch, über die eigene Geschichte sprechen zu lernen. Doch auch das Sprechen, auch die Gegenrede wollen geübt sein, nach Jahrzehnten der Schweigsamkeit und des Beschweigens. Mara Kogoj: „… und hör gut zu, sage ich, was wir tun: nichts anderes als sprechen zu lernen, wir lernen sprechen. Unser gemeinsamer Sprechversuch, denn es ist ja alles andere als so, dass man das herrschende Instrument präparieren könnte, wenn man gerade mal Lust darauf hat.“ 4 Beide müssen im Laufe des Projekts und in dem durch Pflügler und ihre Gespräche angestoßenen Lernprozess erkennen und anerkennen, dass Geschichte niemals endet, dass sie nach- und fortwirkt und dass man sich ihr weder durch innere noch durch äußere Emigration entziehen kann. Denn, so spricht Mara Kogoj zu Tone Lebonja, das Vergangene, „an dem ich notwendig teilnehme auf die ein oder andere mehr oder weniger abstrakte Weise mein gesamtes Leben lang schon aufgrund bloßer Anwesenheit, so einfach: du ganz genauso.“ 5

Rede und Gegenrede. Eine wichtige Korrektur und eine zu füllende Lücke.

Involviert zu sein, bedeutet jedoch auch, Stellung beziehen zu müssen, vernehmbar, deutlich. Mara Kogoj wird zunehmend bewusst, dass sie als Kärntner Slowenin ihre Stimme erheben und ihre eigene Version der Geschichte gegen die Pflüglers und der Mehrheitsgesellschaft setzen muss. Denn Geschichte wird teils vergessen und verdrängt, vor allem jedoch instrumentalisiert und verfälscht: Aus Tätern werden Opfer, werden Helden – und diese Versionen der Geschichte drohen, dominant und wirksam und, sofern sie unwidersprochen bleiben, zu der anerkannten „Wahrheit“ zu werden. Dem mit Schweigen zu begegnen, hieße: schweigend zustimmen.

Mara Kogoj trifft eine Entscheidung: „Ein Monolog steht noch aus und eine Korrektur gegen den Kitsch der: mechanisiert gültigen Kunstware bisher, eine zusätzliche Stimme oder zwei sogar: dagegen und endlich notwendige Mehrstimmigkeit nach über zehn Monaten des Versuchs (…). Eine Korrektur daher, ich sollte sie vornehmen.“ 6Am Ende des Buches kehrt sie die Rollen um und zwingt Pflügler, ihr zuzuhören. Es ist ihr wichtig, ihre Stimme zu erheben – doch es ist ihr ebenso wichtig, dass andere es ihr gleich tun: „Daß niemand außer mir das Recht besitzen müsse und könne, und dürfe oder ein Gefühl der Notwendig-, Dringlichkeit, in dieser Sache zu sprechen, ein solches Sprechen in einem solchen Fall: eine Einmischung wäre oder zumindest eine Anmaßung, zumeist beides zugleich. Wäre das so. Denn ganz anders, Kogoj: Es sollte doch niemals nur meine eigene Sache bleiben, die meine zumindest jederzeit.“ 7

So gründlich der historische Hintergrund dieses überaus politischen Romans auch recherchiert ist, so faszinierend die kunstvolle Sprache, sein Ende in Form der Korrektur Mara Kogojs erscheint zunächst wenig zufriedenstellend und der enttäuschte Leser fragt sich: Das soll es gewesen sein? Doch mit den Worten „Pflügler. Hören Sie zu:“ 8 und einem Doppelpunkt schließt der Roman. Man weiß: Etwas steht noch aus. Es ist noch nicht alles gesagt, noch nicht das letzte Wort gesprochen. Damit ist es an dem Leser, die mögliche Fortsetzung der Korrektur Mara Kogojs zu imaginieren – oder gar darüber nachzudenken, was er selbst sagen würde, sagen könnte. Der Leser, der bis dahin als stiller und stummer Beobachter an den sprachlich so plastischen Gesprächen, Interviews und Auseinandersetzungen zwischen Kogoj, Lebonja und Pflügler teilnahm, ist nun aufgefordert, die Lücke zu füllen, die das Buch an seinem Ende lässt. Denn niemand ist nicht von der Geschichte betroffen. Und schweigen bedeutet nichts anderes als zustimmen, letztendlich. Also: Lesen Sie dieses Buch. Und sagen Sie etwas. Es ist nicht nur, aber auch die Ihre Sache, jederzeit.

Kevin Vennemann: Mara Kogoj. Frankfurt am Main 2007

  1. Veyne, Paul: Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt am Main 1992. Seite 55 [zurück]
  2. Seite 217 [zurück]
  3. Seite 120f. [zurück]
  4. Seite 174 [zurück]
  5. Seite 158 [zurück]
  6. Seite 153 [zurück]
  7. Seite 175 [zurück]
  8. Seite 218 [zurück]

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